„Ort. Zeit. Kontinuum.“ heißt Tim Berresheims erste monumentale 360-Grad-Wandarbeit, die er eigens für das Suermondt-Ludwig-Museum erstellt hat. Bis zum 1. Februar 2026 bietet der überregional bekannte Aachener Künstler hier einen Bogen von antiker Kunst bis zur Gegenwart.
Durch die 3D-Brille betrachtet, entfaltet sich inmitten der Sammlung des Hauses ein plastisches Panorama der Aachener Stadthistorie, gespickt mit Anspielungen auf die Kunstgeschichte und auf Persönliches. Da sind der Dom zu sehen, das Grashaus, die Fassade des Theaters. Michelangelos göttlicher Fingerzeig aus der Sixtinischen Kapelle, der den erwartungsvollen Adam zum Leben erweckt, ist als Höllensturz interpretiert: Die Hand Gottes trifft hier auf einen gefallenen Engel. Passenderweise ist sie böse tätowiert. Ein herausragendes Motiv des Wandbildes ist die mythologische Skulptur „Apoll und Daphne“ des italienischen Bildhauers Filippo Parodi (1630-1702), ein Werk aus der Sammlung des Museums. Um die Plastik können Betrachtende herumlaufen und so das Kunstwerk in Gänze erfassen. Berresheims immersive Skulptur vereinigt die Vorteile von Skulptur und Bild: Obwohl auf den ersten Blick „Flachware“, kann man sie, durch die 3D-Brille betrachtet, komplett umlaufen. Die digitalen Daten für das Motiv stammen von Schülerinnen und Schüler des College Volkshochschule Aachen. Sie haben die Skulptur im Rahmen des Projektes „Aus alter Wurzel neue Kraft“ als Ausgangspunkt ihrer kreativen Arbeit ausgewählt und sie im Zuge dessen eingescannt. Neben dem Scan der Skulptur sind auch andere Ergebnisse des Projektes in das Wandbild eingeflossen. Zu sehen sind zum Beispiel zahllose Blätter mit Zeichnungen von Kindern der Grundschule am Fischmarkt, die geclustered durch die Szenerie flattern. Die Zeichnungen sind Ausdruck der Auseinandersetzung der Kinder mit der städtischen Umgebung, in der sie sich täglich aufhalten. Im Zuge dessen entwickelte sich auch die Comicfigur „Bibbes“, das Streuselbrötchen – ein (Er-)Zeugnis der kulinarischen Tradition Aachens.
Stammgast der Steffens-Schänke
In die Wandarbeit sind zwei eigenständige Bilder integriert. Eines zeigt das Interieur der Steffens-Schänke, einer Aachener Gaststätte am gleichnamigen Platz, die heute nicht mehr existiert. Offenbar zum Bedauern des Künstlers, der sich als Körper gewordene Datenmenge gleich mehrfach ins Bild integriert hat und damit auch nach dem Verschwinden der Kneipe Stammgast bleibt. „Luogo o spazio?“ zeigt Relikte von Architekturmodellen der Aachener Baugeschichte. Tim Berresheims Installation ist ein Gang durch die Geschichte. Wie ein Archäologe gräbt er sich durch Schichten der Geschichte, sammelt Fundstücke ein, kartiert sie, setzt sie neu zusammen, kontextualisiert sie, erzählt seine eigene Geschichte. Dabei zeigt er nebenbei, was Geschichte ist: eine ständige Metamorphose, eine riesige Menge an vielfältigsten Daten in Zeit und Raum, deren Erzählung eine Frage der Deutungshoheit ist. Und dass man sich auch als Schulkind einen Teil dieser Deutungshoheit erobern kann: mit einem eigenen Kommentar zu seiner eigenen Entdeckung – und mit dem künstlerischen Mittel seiner Wahl. Alle möglichen künstlerischen Ausdrucksformen, Materialien und Digitaldaten sind miteinander verwoben und gleich gültig im Bildraum versammelt. Die von Sarvenaz Ayooghi kuratierte Schau im Dialog mit der Sammlung macht das Museum zum aktuellen Erlebnis- und Lernort.
Das Projekt „Aus alter Wurzel neue Kraft“
Seit Ende 2023 engagiert sich der Künstler Tim Berresheim im Auftrag der Stadt Aachen in dem großangelegten digitalen Kunst- und Teilhabeprojekt „Aus alter Wurzel neue Kraft“, an dem Aachener Schüler*innen unterschiedlicher Altersklassen und Schulformen maßgeblich beteiligt wurden. Der Titel geht auf den Leitspruch christlicher Schützenbruderschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Dieses im besten Wortsinne partizipative Projekt basiert auf einem von den Teilnehmer*innen unter Anleitung des Künstlers durchlaufenen Aneignungsprozess, der aus zahlreichen Workshops in der Grundschule Am Fischmarkt, dem Kaiser-Karls-Gymnasium und dem College vhs Aachen sowie an ausgewählten Orten in der Stadt bestand. Immer wieder wurden Arbeitsergebnisse der Öffentlichkeit präsentiert. Schon in der Anfangsphase hat das Suermondt-Ludwig-Museum den Dialog mit dem Künstler gesucht, um den Teilnehmer*innen seine Sammlung zu (er)öffnen – ein weitere Baustein der gegenwärtig stark an kultureller Teilhabe orientierten Museumsarbeit. Nach umfänglicher Einführung durch hauseigene Kurator*innen haben sich die Partizipant*innen des College vhs Aachen in Workshops mit Exponaten der Sammlung beschäftigt und dann die großformatige mythologische Skulptur ‚Apoll und Daphne‘ des italienischen Bildhauers Filippo Parodi (1630- 1702) als Ausgangspunkt ihrer kreativen Experimente und Denkprozesse gewählt. Das Projekt des College vhs wird parallel zur Berresheim-Ausstellung vorgestellt, auch durch eine vom Künstler konzipierte App.
Der Künstler
Tim Berresheim, *1975, ist ein international agierender, multimedial bildender Künstler und Pionier der computerunterstützten Kunst. Er erzeugt komplexe Bildwelten, die sich aus dem Spannungsfeld von Computertechnologie und der Befragung der eigenen Wirklichkeit entwickeln. Seine Arbeiten umfassen 2D- und 3D-Drucke, Fotoabzüge und Plastiken, Augmented Reality-Skulpturen und -Videos sowie verschiedene Kunstam-Bau-Projekte. Bestrebt, in seinen Werken die Komplexität unserer Zeit wiederzugeben und Betrachtende vor neue Aufgaben in der Bildrezeption zu stellen, kreiert Berresheim intensive Erlebniswelten an der Schnittstelle Kunst/Forschung/Technologie. Berresheim studierte bei Albert Oehlen an der Kunstakademie Düsseldorf und bei Johannes Brus an der HBK Braunschweig.
Infos unter www.suermondt-ludwig-museum.de.